Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser in der Jahresschlussandacht im Hohen Dom in Aachen, 31. Dezember 2021, 17.00 Uhr

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser in der Jahresschlussandacht im Hohen Dom in Aachen,
31. Dezember 2021, 17.00 Uhr

Lesungstext: Ex 3, 1-15.

 

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Schwestern und Brüder,

drei Worte sind es, die im vergangenen Jahr für uns im Bistum Aachen sehr bedeutsam wurden: drei große Orientierungsworte.

Sie bekamen immer mehr Gewicht im Nachdenken darüber, was die Kirche heute zu tun hat. Im Heute-bei-dir-Prozess haben wir eine so­genannte Zukunfts­bildskizze entwickelt. Und der Synodalkreis hat daraus für seine Arbeit einen Kompass gemacht.

In diesen beiden Texten kommen die drei Markierungen vor. Ich möchte damit heute, am letzten Tag des Jahres 2021, mit Ihnen auf un­sere Zeitstunde blicken und nach dem guten Weg ausblicken.

Das erste Orientierungswort ist der Begriff Freiheit.

Kaum eine Bedingung unseres Lebens ist so kostbar und so gefährdet wie, dass wir frei sind und frei leben können.
Frei: Wovon? 
Zuallererst fällt mir die Corona-Pandemie ein. 
Wer wollte nicht end­lich aufatmen, dass wir diese heimtückische Ge­fahr wirklich hinter uns gelassen hätten und weltweit wieder frei wür­den von all den Verbo­ten und Appellen, den 3- oder 2-G plus Aufla­gen, Masken- und Abstands­pflich­ten!

Doch nicht nur die Corona-Krise verbreitet in unserer Gesellschaft viele schlei­chen­de Zweifel. Auch die Klima-Krise hat sich im ver­gan­genen Jahr unvergesslich in unser Land eingeschrieben in der soge­nannten Flutkatastrophe. Ungeahnte Starkregen, das Abtauen der Pol­kappen, das Auftauen der Permafrostböden, monatelange Wald­brän­de nicht nur in den Trockengebieten der Erde, sondern sogar in Sibirien: Funktioniert unsere Welt noch? Macht der Staat seine Sache richtig? Hat meine persönliche wirtschaftliche Existenz Bestand? Wie lange können wir noch so weiterleben wie bisher? Wie kommen wir welt­weit zu einem Lebensstil in Einklang mit den natürlichen Ressour­cen und in größerer Gerechtigkeit für alle Menschen dieser Erde?

Eine Minderheit begehrt massiv auf.

Ihre Zweifel an allem sind so groß, dass sie höchsten Alarm schlagen, heftigst protestieren, in allen Maßnahmen gegen die Krisen schon dikta­tori­sche Überwältigungen heraufziehen sehen.

Die Freiheit scheint für sie durch staatliche Maßnahmen bedroht.

Die weitaus größere Mehrheit in unserem Land aber willigt ein in die Impfappelle, in die nötigen Anstrengungen gegen den Klimawandel, in die Veränderungen, die der Ausstieg aus der fossilien Energiever­sorgung brinegn wird. 

Viele Menschen fahren in all dem für ihre persönliche Lebensführung  auf Sicht, große Zukunftserwartungen und Pläne sind momentan kaum möglich. Hauptsache dieses Jahr, das nächste Jahr laufen gut: Lass uns das tun und genießen, was jetzt geht, was uns heute gut tut, was uns hält und tröstet!

Freiheit also - wenigstens in der Familie, im Privatbereich, in einfa­chen Freuden, die noch gehen.

Allerdings: Im vergangenen Jahr hat trotz der Pandemie in unserem Land eine Bundestagswahl stattgefunden. Und der demokratische Rechtsstaat auf der Grundlage unseres Grundgesetzes hat reibungslos funktioniert. Wir haben ohne Putsch, Gewalt, Blutvergießen, ohne Wahlanfechtungen der Wahlverlierer eine neue Regierung bekommen.

Und die ist wiederum auf Zeit gewählt. Danach wird neu abgestimmt. Die Gewaltenteilung funktioniert in unserem Land. Regierung, Parla­ment und Opposition und die Justiz sind eigenständige Kräfte, die sich gegenseitig kontrollieren und Macht teilen müssen. Darüber können wir uns gar nicht genug freuen! Sehen wir doch in so vielen anderen Ländern der Erde, dass Regierungen und einzelne Herrscher nie von der Macht weichen, dass sie ihre eigenen Völker brutal und blutig un­terdrücken, dass sie die Rechtsprechung beugen.  

Ja sogar das mächtigste demokratische Land der Erde, die USA, er­leiden eine tiefe Krise ihrer Demokratie, die innere Spaltung des Vol­kes, die Verweigerung von Zusammenarbeit, die Verbreitung von Lü­gen gegeneinander, die skadalöse Behauptung, die Demokratie wer­de unwirk­sam gemacht, weil der Gegner sich den Sieg geraubt habe. 

Freiheit ist nie endgültig gesichert.
Zwei mächtige Dämonen bedrohen sie.
Und die sind nicht weit weg von uns, sondern umgeben uns täglich.

Sie bekommen heute ungeahnte Kräfte aus der Digitalisierung unserer Welt. Die digitalen Medien lassen den Pegel von Informationen ins Unermessliche steigen. Alles geht in Echtzeit um die ganze Welt. Je­der kann jeden erreichen. Eine Flut von Nachrichten, Behauptungen, Ein­schätzungen, Likes und Dislikes, echten und manipulierten Bildern holt alle ein, die online gehen, die posten oder twittern, die Kommen­tare lesen oder schreiben. 

Und dabei wird je länger je schmerzlicher allen bewusst: immer noch mehr Information erzeugt keinesfalls noch mehr Wissen.
Information und gemeinsames Wissen sind zweierlei! 

Wenn aber gemeinsames Wissen wegschmilzt, wenn statt dessen die Flut von Infos alles und jedes in meine Aufmerksamkeit hineinspült, dann verliere ich meine Bodenhaftung und fange jämmerlich an zu schwim­men. Dann ist da auf einmal kein gemeinsamer Boden von Wissen mehr, auf dem ich mit vielen oder gar den meisten Menschen sicher unterwegs bin.

Die zwei Dämonen werden so immer mächtiger.

Der eine von ihnen heißt Troll.

Er ist sehr beliebt bei den Diktatoren und bei den Populisten dieser Welt. „Flood the zone with shit”, hat ein früherer Berater eines frühe­ren amerikanischen Präsidenten gesagt: Flute den Aufmerksam­keits­bereich der Menschen mit Informationsjauche.
Zu einer bestimmten Information werden dann unzählige anders­lau­tende Behauptungen, Gegendarstellungen, Verdrehungen oder skanda­löse Lügen hinzugeflutet und weltweit verbreitet. 
Am Ende weiß niemand nichts Genaues mehr.
Alles wird unsicher. Das Schlimmste stimmt, vielleicht auch das ge­nau­e Gegenteil. Jedenfalls ist das, was mir nicht passt, durch die Shit-Flut unwirksam geworden.
Der Troll-Dämon ist ein Massenverwirrer und –lügner.
Er macht Freiheit unmöglich.

Denn er legt unzählige Fesseln und Tretminen aus. Etwas Richtiges, Wichtiges, für alle Geltendes zu benennen wird immer schwieriger. Denn wer schon Macht hat, will sie mit den digitalen Trollen unbe­dingt behalten. Und wer Macht bekommen will, muss den Troll-Dä­mon nur noch mehr aufheizen.

Wir alle leiden unter diesem Dämon. Er macht unsicher. Er zwingt uns auszuwählen mit dem Gefühl: Das muss jetzt aber stimmen! So bringt er uns gegeneinander auf. So bedroht er unsere Freiheit. 

 

Der zweite Dämon heißt: Cancel.

Ausgrenzen, rausdrängen, zensieren, zum Skandal erklären, verbieten, schon bloße Meinungen bestrafen mit größtem Missfallen oder schar­fen Attacken, das ist das Werk des Cancel-Dämons. Auch der ist weit verbreitet. Er schürt Angst. Er will eine einzige Auffassung durchset­zen und für allein richtig und zulässig erklären. Er beschnei­det die Meinungs­freiheit. Er stört den freien Lauf de Gedanken und  der For­schung. Er verlangt, etwas Vorläufiges von heute für endgültig zu er­klären. Und er lässt nicht gelten, dass neue Erkenntnisse hinzu­kom­men, die alles in ein anderes Licht rücken könnten. Und damit verhin­dert er das gemeinsame Dazulernen.

Die Strafe, die er verhängt, liegt zum Beispiel in dem Vorwurf: Du diskriminierst. Oder: Du bist rassistisch. Oder: Du ist ein typischer Vertreter einer toxischen Männlichkeit. Oder: Du bist homophob. Du musst gendern! Sonst bekommst du schlechte Zensuren oder wirst aus universitären Vertretungen ausgeschlossen.  

Der Cancel-Dämon ist sehr mächtig. Denn er bringt viele Menschen dazu, sich schnell selbst zu zensieren. Um nicht bestraft und öffentlich angegriffen zu werden, fangen nicht wenige an, lieber zu schweigen. Und dieses Schweigen wird sogar ansteckend: Wenn der nichts sagt, sage ich besser auch nichts dazu. Wenn die das sagt, kann ich mich nicht trauen, etwas ganz anderes zu behaupten.

Die Informationsflut wird durch den Cancel-Dämon immer einsei­ti­ger. Obwohl in bestimmten Themen eine Meinung alles andere beherrscht, kehrt kein Friede ein. Wer auch nur ein wenig weiter denkt, spürt: Ir­gendetwas stimmt nicht. So einfach ist es nicht. Wenigstens die Ge­dan­ken sind dann noch frei. Aber gemeinsames Wissen daraus zu ma­chen, das wird immer gefährlicher. 

Wer gegen den Mainstream forscht, denkt und sich austauschen will, bekommt es schnell mit dem Cancel-Dämon zu tun und muss es mit ihm aufnehmen. Am schlimmsten ist das in den Staaten, die auch die Meinungsfreiheit radikal unterdrücken und digital überwachen und sofort bestrafen.

Freiheit ist also immer zuerst Freiheit von Übermächtigungen, von Fremd­herrschaften. Freiheit muss eine echte Freiheit für etwas wer­den, was ich als richtig und wahr erkannt habe, was ich gemeinsam mit andern Menschen tun möchte, was zu gemeinsamem Wissen wer­den kann.

Also geht es bei der Freiheit immer auch um die Freiheit wofür.

 

Und damit bin ich beim zweiten großen Orientierungswort, das für uns als Kirche hohe Bedeutung gewinnt, und dieses Wort heißt: Begeg­nung.

Wir Menschen suchen nach dem, was sich lohnt.
Um es zu finden, brauche ich die Freiheit. Wer aber setzt mich so in meine Freiheit ein, dass ich selbst finde, was sich lohnt, und nicht un­frei vor die Karren anderer gespannt werde?
Die beiden Dämonen „Troll“ und „Cancel“ jedenfalls tun genau das. Wer hat die Macht, uns von ihnen zu befreien?
Wer kann bewirken, dass in der Menschheit mehr gemeinsames Wis­sen entsteht? 
Wer lässt zu, dass es sogar so etwas wie Wahrheit gibt, die immer gilt und kritisch befragt und belastet und weiter freigelegt werden kann und dabei nicht zum Dämon entartet, der unfrei macht? 
Wer kann wirklich die ganze Wahrheit vertragen?
Jetzt, Schwestern und Brüder, wird es kritisch. Denn ich glaube: Kei­ner von uns! 

Wir alle haben Grenzen. Die Wahrheit ist größer als jeder einzelne Mensch. Niemand kann sie beherrschen. Sie muss sich selber zeigen. Und wenn es die Wahrheit ist, die sich zeigt, und kein Dämon, dann macht sie alle, die ihr begegnen frei. Denn dann kann ein Mensch frei wäh­len. Dann ist das Gewählte wahr und wird zum gemeinsamen hei­ligen Boden. Und deshalb gibt es dann einen Weg, der nicht zum Irr­weg wird.

Sie spüren, damit bin ich bei der uralten Begegnungs-Erzählung des Gottesvolkes Israel, die wir eben aus dem Buch Exodus gehört haben.

Mose, der Mann, der in Ägypten als Kind der hebräischen Sklaven aufgewachsen war, war selbst ein Opfer des Cancel-Dämons. Nur durch eine List war es dazu gekommen, dass er als männlicher Nach­kom­me der Hebräer nicht getötet, sondern von der Tochter des Pharao adoptiert worden war. Seine leibliche Mutter wurde zu seiner Amme.
Als junger Mann musste er später fliehen. Bei den Midianitern kam er unter, heiratete eine midianitische Frau, wurde Viehhirt in der Groß­familie seines Schwiegervaters Jitro.
Alles ziemlich widrige und ziemlich unspektakuläre Verhältnisse.
Und auch die entscheidende Begegnung, die alles verändert, ereignet sich nicht im Wunderland, sondern in der Alltäglichkeit eines belang­losen Alltags. 
Mose hütet die Herden bei ihrem Zug von Weide zu Weide. So ge­langt er eines Tages zu einer Stelle, wo er vorher noch nicht war. Dort gibt es nicht viel. Nur Dornengesträuch. Karg und Trocken.
Was ihm dort begegnet, kann natürlich und unnatürlich sein. Es gibt Gegen­den mit dauernd lodernden Flammen, die von unterirdischen Gasen gespeist werden. 
Mose sieht eine Flamme mitten in einem Dornbusch. Er brennt und verbrennt nicht. Mose wird neugierig, will sich das näher ansehen.
Eine Stimme spricht ihn an. Ist da doch jemand? Wer auch immer da zu ihm spricht, der scheint ihn schon zu kennen und ruft ihn bei sei­nem Namen. Und jetzt ist Mose ganz da, ganz aufmerksam, ganz auf Empfang: „Hier bin ich“.
Die Begegnung, die Mose zuteil wird, geschieht in seinem realen Le­ben, in seinem Verstehenkönnen, in seinen Fragen und seinem Su­chen.

Und doch verändert die Begegnung alles: unter den Füßen entsteht heiliger Boden. Nur die nackten Füße, also wirklich du und dein realer Fußabdruck, passen dazu, deshalb: „Leg deine Schuhe ab“.

Dann geht dort am brennenden Dornbusch ein Vorhang auf, der ganz weit blicken lässt. Gott kennt den Mose, sein Geschichte, seine Situa­tion und den ganzen Zusammenhang, sein Volk und die Unter­drü­ckungs­maschinerie in Ägypten. Er ist kein neuer Gott, sondern der­selbe, den die Erzväter kennenlernen durften Abraham, Isaak, Jakob. Die Begegnung ist kein „Troll“, der verwirrt, kein Einschränker und „Cancler“, der nur eine Tür zulässt und alle anderen verbietet, son­dern: Alles kommt zusammen, was war, was du erlebt hast, was jetzt ist. Es stimmt und passt zusammen. Es ist wahr. Gemeinsames Wissen mit denen, die vor uns waren. Gemeinsames Wissen soll entstehen mit den Zeitgenossen und das Angebot von Freiheit: Euer Leid ist zu mir gedrungen. Ich bin herabgestiegen, um euch vom Pharao zu befreien. 
Die Dämonen werden davor blass und schwächeln. 
Denn diese Stimme ist die Wahrheit. 

Mose fragt nach: Was werden die Israeliten sagen? Werden sie nicht doch der politischen Korrektheit des Pharao mehr glauben als mir? Werden die Troll- und die Cancel-Attacken des Pharao nicht doch am Ende stärker sein? Werden mir die Leute nicht vorhalten: Das Elend von heute kennen wir. Es ist uns ver­trau­ter, vielleicht sogar lieber als die neue gefährliche Wahrheit von morgen, in die du, Mose, uns hin­einführen willst!

Was, Gott, habe ich dann gegen die Dämonen aufzubieten?
Mose bekommt Antwort, und diese ist gültig und unübertrefflich bis heute: Sag den Israeliten, der Ich-bin ist dir erschienen.
Der Ich-bin hat dich gesandt.
Der Ich-bin ist größer als jede Situation, in die du geraten kannst.
Das ist mein Name für immer, von Geschlecht zu Geschlecht: Ich-bin.

Das heißt nämlich zugleich: Ich bin mit dir. Ich bin herabgestiegen zu dir. Ich bin für dich da und werde den Boden groß und größer und wahr und heilig machen, auf dem du stehst, wo immer und wann im­mer. Und nie hört mein Name auf, wahr zu sein. Und darum führe ich euch in die Freiheit, in ein schönes, weites Land, in dem Milch und Honig fließen.

Viele Züge dieser Begegnungserzählung erinnern uns auch an das Weihnachtsgeheimnis: Gott ist zu uns herabgestiegen. Ein Zeichen werdet ihr finden, ein Kind. Heute ist euch der Retter geboren. Gott hat seinen Namen wahr gemacht: Immanuel: Gott ist mit uns. Und auch an der Krippe gehen Vorhänge auf in eine unabsehbare Zukunft: die Hirten, die Nichtsgelter von damals, ahnen den Frieden, den Gott aufmacht: Ehre Gott in der Höhe und Frieden auf Erden allen Men­schen guten Willens! Und die Weisen aus dem Osten bezeugen, dass dies alles universal wird: dieser neugeborene König der Juden bringt das Herrsein Gottes für alle Welt zum Durchbruch.

Begegnung ist das zweite große Orientierungswort für unsere Kirche heute. Und beide Orientierungsworte werden durch Gott erst groß und universal. Gott will den Menschen in Freiheit führen von den Dämo­nen, die in jedem Gewand der jeweiligen Zeit auftreten und zu herr­schen beginnen, heißen sie nun Pharao oder Troll oder Cancel oder sonst wie. Gott will uns begegnen in den Menschen, die er sendet. Gott ist herabgestiegen in Jesus Christus. In ihm ist die ganze Wahr­heit, alles kommt zusammen, nichts, was uns Menschen wirklich nötig ist, was uns frei macht, bleibt unterdrückt oder verborgen. In Jesus  geht der Vorhang auf für alles, was uns eine gemeinsame Menschheit wer­den lässt in Gerechtigkeit und Frieden, 

Doch das setzt Gott nicht durch Macht und Zwang durch, nicht durch Gängelei und Beschränkung, sondern durch freie Begegnung.

Für uns als Kirche heute heißt das: Ja sagen zu Freiheit und Vielfalt der Menschen. Ja sagen zur Meinungs- und Religionsfreiheit. Ja sagen zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat und seinem Regelwerk, für ihn eitreten, ihn schützen und stärken. Und zugleich: sich sorgen um die Befreiung anderer, dass sie teilnehmen können, dass es soziale Gerechtigkeit gibt, dass es die Freiheit der Forschung gibt und das of­fe­ne Wort und den Mut, gegen die Trolle und Cancel-Unterdrücker-Dämonen an­zukämpfen.

Woher aber kommt das alles?
Ich bin überzeugt: aus der Begegnung mit Gott in Jesus Christus.

Und darum muss unsere ganze Mühe und Anstrengung als Kirche, un­sere Verkündigung, unser seelsorgliches Können dazu dienen, dass die Men­schen heute in ihren Fragen und Themen, in ihren Sorgen und Nöten Gott begegnen, Jesus und sein Evangelium kennenlernen, sel­ber aus seinem Mund in ihrer Lebenssituation hören, was er der Frau am Jakobsbrunnen gesagt hat und was wie das Wort Gottes an Mose klingt: „Ich bin es, der mit dir spricht“ (Joh 4, 26; vgl. Joh 8, 24).

Eine Pastoral, die echte Begegnung anzielt mit vielen Milieus, mit vielen Themen, mit vielen verschiedenen Menschen, das ist das Ori­entierungswort im Heute-bei-dir- Prozess. 

Begegnung, die frei lässt und Gott zutraut, dass er den Vorhang hebt.

Und wenn das geschieht, wenn ein Mensch wie Mose spürt: Hier ist heiliger Boden, hier ist der Ich-bin zu mir herabgestiegen, hier zeigt er mir einen Freiheitsweg für mein Leben, dann haben sie eine echte neue Wahl. Etwas Neues wird möglich. Nichts bleibt nur so, wie es ist, weil Gott, der Ich-bin und Ich-bin-mit-dir, größer ist.

 

Und daraus ergibt sich das dritte große Orientierungswort: Ermög­lichung.

Unser Wirken als Kirche soll eine Pastoral der Ermöglichung sein.

Damit ist nicht Beliebigkeit und Alles und Jedes gemeint. Sondern: Was dir in Jesus begegnet ist, was Gott in dir freigelegt hat, was du wegen Jesus wählst, das soll gelten und wachsen.

Eine solche Pastoral der Ermöglichung verändert uns als Kirche, und das gelingt wahrscheinlich nicht ohne Schmerzen. 

Denn nicht der Pastor oder der Diakon, die Gemeindereferentin oder der Pastoral­refe­rent garantieren, dass die Kirche wächst und neu wird, sondern die Menschen, die Gott in Jesus Christus begegnet sind, die in ihrer Taufe und ihrer Firmung die Flamme erkennen, in denen Gott sie mit Namen ruft wie Mose, die beten und näher herankommen, die den Glauben der Erzväter und -mütter tiefer kennenlernen wollen, die Ideen bekommen, was sie mit ihren Begabungen für Andere tun kön­nen und sollen: Die sind es, durch die Gott heute heiligen Boden ent­stehen und wachsen lässt, so dass Menschen aufatmen, frei werden, neue gemeinsame Erfah­run­gen entstehen, die tragen und nicht verwir­ren, die einladen und nicht ausgrenzen.

Das alles, Schwestern und Brüder, ist nun beileibe keine nette oder harmlose Träumerei einer Kirche, die in die Krise geraten ist und sich gegen ihren Einflussverlust stemmt.

Fangen wir an zu erkennen: nicht nur die Kirche durchlebt ein tiefe Krise, auch die Gesellschaft, auch der demokratische Rechtsstaat, auch die Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens auf diesem Plane­ten sind in tiefen gefährlichen Krisen.
Wer aber hat die Kraft, die Dämonen von heute zu bannen?
Wer kommt gegen die starken Lobbyisten und die Dikatoren an?
Wer kann die Gefahren der Digitalisierung nicht nur benennen, son­dern findet die Überzeugungskraft, sie zu zivilisieren und zu humani­sie­ren? 

Gott will, dass der Mensch in Freiheit lebt. Gott will, dass der Mensch die Erde bebaut und nicht zerstört, sie nutzt wie ein Garten, bewohnt als ein gemeinsames Haus für alle.
Der Glaube an den Gott Israels, der Glaube an den Gott und Vater Jesu Christi, der Glaube an das Wirken des Heiligen Geistes in den Herzen der Gläubigen, hat die Kraft, gegen den Pharao und die Ängste, die er hervorbringt, anzugehen.
Ich bin überzeugt: Nur der Glaube an Gott hat diese Kraft! 
Der Glaube an den Gott, dessen Name heißt: Ich bin. Für dich. Bei dir.

Darum ist die Mühe, dass unsere Kirche aus ihren Krisen gestärkt he­rauskommt, kein Eigennnutz, sondern überlebenswichtig.
Nicht weil es um die Kirche geht. 
Sie ist nur Hilfsmittel und Zeichen für Gottes Wirken.

Deshalb aber glaube ich auch fest daran, dass die Krisen gute Kräfte freisetzen werden: Wenn wir uns nach echter Freiheit sehnen, wenn wir Gott begegnen wollen, wenn wir spüren: Er zeigt einen neuen Weg, der wirklich gangbar, vertrauenswürdig und plausibel wird, der aber verlangt, dass wir uns entscheiden und wählen: „Und jetzt geh! Ich sende dich.“ 

Dass wir unsere Krisen in der Kirche durch Synodalität überwinden wollen, das, Schwestern und Brüder, ist zu guter Letzt das schönste Zeichen der Zeit: freimütig reden, intensiv zuhören, niemanden can­celn, keinerlei Verwirrung zu­lassen, eine gemeinsame Wahl finden.
All das üben wir im Heute-bei-dir-Prozess und im Synodalen Weg und dann auch in der weltweiten Synode in der Weltkirche.
Das aber ist nichts Zufälliges.
Gott ist zu uns herabgestiegen, das dürfen wir glauben. 
Wir sind keine Kirche für uns selbst, sondern für die Befreiung der Menschen, damit sie Gott in Jesus Christus begegnen und eine ganz per­sönliche Wahl haben, um selber ganz zu ihm zu gehören. Amen.